Das „erschreckende Schweigen“ der Kardinäle

Quelle: FSSPX Aktuell

Prof. Josef Seifert

Am 30. Mai 2023 veröffentlichte der Vatikanist Edward Pentin einen offenen Brief von Professor Josef Seifert an die Kardinäle der katholischen Kirche am 30. April, dem Fest der Heiligen Katharina von Siena. Diese wusste, so der österreichische Gelehrte, "auf einzigartige Weise die größte Ehrfurcht vor dem Papst als Stellvertreter Christi auf Erden mit einer schonungslosen Kritik an zwei sehr unterschiedlichen Päpsten zu verbinden“.

Josef Seifert, der als katholischer Philosoph an der Ludwig-Maximilians-Universität in München lehrt, meinte unverblümt, dass er eine „schreckliche Gefahr eines völligen Zusammenbruchs der katholischen Kirche in vielen Ländern“ sieht, wenn die Kardinäle sich nicht zu einer „gewaltigen Krise“ innerhalb der Kirche äußern, einer Krise, die in seinen Augen vielleicht die größte ist, mit der die Kirche jemals konfrontiert war.  

Der Hochschullehrer forderte alle Kardinäle, Bischöfe und Verantwortlichen in der Kirche auf, die Wahrheit der katholischen Lehre gegenüber dem heute vorherrschenden Relativismus und der Situationsmoral zu verteidigen. Er geißelt das „erschreckende Schweigen“ der Kardinäle zu dieser einzigartigen Krise, die „von der Spitze der Kirche bis nach unten“ reicht. 

Das Apostolische Schreiben Amoris lætitia 

In Bezug auf das Apostolische Schreiben über die Familie Amoris lætitia vom 19. März 2016 zögert er nicht zu schreiben, dass der Papst selbst „begonnen hat, den wesentlichen Inhalt der Heiligen Schrift und der Lehre der Kirche in Zweifel zu ziehen, ja sogar zu leugnen“. Und er fügte hinzu: „Es wurde für mich unverständlich, dass keiner der Kardinäle, abgesehen von den vier Kardinälen der Dubia, sich klar gegen solche Irrtümer und gegen die Verdunkelung der katholischen Lehre ausgesprochen hat.“ 

Der Hintergrund, auf den sich Seifert bezog: Zusammen mit den Kardinälen Carlo Caffarra und Joachim Meisner, die beide 2017 verstorben sind, hatten die Kardinäle Raymond Burke, emeritierter Präfekt des Obersten Gerichtshofs der Apostolischen Signatur, und Walter Brandmüller, ehemaliger Präsident des Päpstlichen Komitees für Geschichtswissenschaften, im November 2016 ihre Fragen – Dubia – zum päpstlichen Schreiben über die Familie veröffentlicht. Sie erhielten keine Antwort. „Athanasius und viele Laien eilten herbei, um die Wahrheit zu verteidigen - ist es heute notwendig, dass sogar die miseri laici [armseligen Laien] aufstehen, um die Wahrheit zu verteidigen.“ 

Die interreligiöse Erklärung von Abu Dhabi 

Mit Nachdruck zielt der Münchner Professor auch auf die Interreligiöse Erklärung von Abu Dhabi am 4. Februar 2019 ab. An die Kardinäle gerichtet sagt er: „Sie scheinen nicht zu verstehen, warum viele Katholiken Papst Franziskus kritisieren können, weil er ‚der Papst‘ ist. Ich für meinen Teil verstehe nicht, warum allem Anschein nach alle Kardinäle, mit Ausnahme der vier Kardinäle der Dubia, schweigen und dem Papst keine kritischen Fragen stellen. 

Denn es gibt viele Dinge, die Papst Franziskus sagt und tut, die nicht nur kritische Fragen, sondern auch liebevolle Kritik [aus Liebe zur Kirche und zum Papst] hervorrufen sollten. Erinnern wir uns an die Erklärung über die Brüderlichkeit aller Völker, die Papst Franziskus zusammen mit Großimam Ahmed Mohammed el-Tayeb unterzeichnet hat und in der es heißt: „Pluralismus und Vielfalt der Religionen, Hautfarbe, Geschlecht, Rasse und Sprache sind der Wille Gottes in seiner Weisheit, mit der er die Menschen geschaffen hat.“ 

Ist es nicht Ketzerei und eine schreckliche Verwirrung, zu behaupten, dass Gott, genauso wie er den Unterschied der Geschlechter will, also mit seinem positiven Willen, auch direkt den Unterschied der Religionen will und damit alle Götzenverehrung und Ketzerei? Ist die Abu-Dhabi-Erklärung nicht viel schlimmer als eine Ketzerei, nämlich ein Abfall vom Glauben? 

Wie kann Gott mit seinem positiven Schöpfungswillen Religionen wollen, die die Göttlichkeit Jesu ablehnen, die Heiligste Dreifaltigkeit verleugnen, die Taufe und alle Sakramente und das Priestertum ablehnen? Wie kann er Polytheismus oder die Anbetung des Götzen Baal oder der Pachamama wollen? Widerspricht das nicht völlig der Botschaft des Propheten Elias und aller anderen Propheten und den Worten Jesu?“ 

Schlussfolgernd fragt der katholische Philosoph: „Sollten Sie nicht alle, Kardinäle und Bischöfe, Ihr entschiedenes Non possumus entgegensetzen, wenn Franziskus verlangt, dass dieses ‚Dokument‘ die Grundlage der Priesterausbildung in allen theologischen Seminaren und Fakultäten ist? 

Gott kann niemals - direkt und positiv - ketzerische christliche Konfessionen gewollt oder auch nur gebilligt haben - anstatt sie nur zuzulassen [wie er das Böse zulässt, ohne es jemals zu wollen] -, denn diese Häresien leugnen die Grundpfeiler des katholischen Glaubens wie die biblische Lehre, dass unsere ewige Erlösung nicht allein durch die Gnade Gottes bewirkt wird, sondern auch unsere freie Mitarbeit und unsere guten Werke erfordert. Wie kann er dann mit seinem direkten und positiven Willen Religionen wollen, die die gesamten Grundlagen des christlichen Glaubens und die Lehre Christi selbst ablehnen?" 

Zivile Partnerschaften von Homosexuellen 

In Bezug auf die zivilen Lebensgemeinschaften zwischen homosexuellen Personen [von Franziskus gebilligt, insbesondere in dem Dokumentarfilm Francesco, Oktober 2020] erinnert Josef Seifert: „Die Aussage von Franziskus, dass die zivilen Lebensgemeinschaften von Homosexuellen gefördert werden sollen, widerspricht direkt den klaren Aussagen des kirchlichen Lehramts (Vgl. die Erwägungen zu den Plänen für die rechtliche Anerkennung des Zusammenlebens von homosexuellen Personen vom 3. Juni 2003, veröffentlicht unter dem Pontifikat von Johannes Paul II). Vor allem aber widerspricht sie der Heiligen Schrift und der gesamten Tradition der Kirche! Sollten Sie alle, Kardinäle, wie Bischof Athanasius Schneider es in aller Deutlichkeit getan hat, nicht einen wahren Akt der Liebe für den Papst vollziehen und dies öffentlich und so klar und deutlich zum Ausdruck bringen, wie er es getan hat, mit aller gebotenen Klarheit?“  

Josef Seifert warnt: „Ist es nicht klar, dass ein zukünftiger Papst diese Lehre aus Abu Dhabi, die Franziskus an alle katholischen Seminare und Fakultäten schickt, als abtrünnig verurteilen muss? Wie kann die Kirche das Anathema gegen Papst Honorius wegen einer unendlich geringeren Abweichung vom Glauben rechtfertigen und ihn verurteilen, wenn sie solche skandalösen Aussagen nicht verurteilt? 

Sollten nicht alle Kardinäle wie ein Mann an den Papst schreiben und ihn auffordern, diese apostatische Erklärung zurückzuziehen? Sollten Sie nicht vor dem Moment zittern, in dem Christus Sie fragen wird, wie Sie seinen feierlichen Missionsauftrag erfüllen konnten, ohne gegen die Erklärung von Abu Dhabi zu protestieren, die das teuflische Gegenteil der Worte Jesu sagt?“ 

Bereit sein, bedingungslos für den wahren Glauben einzutreten 

Abschließend betont der österreichische Wissenschaftler: „Hätten nicht alle Kardinäle mit Kardinal Caffarra und den drei anderen Kardinälen der Dubia übereinstimmen und diese Klarstellung fordern sollen, um so dem Papst zu helfen, die Wahrheit zu verkünden? Hätten nicht alle Kardinäle wie ein Mann aufstehen und die brüderliche Korrektur unterstützen müssen, die Kardinal Burke zwar angekündigt, aber nie durchgeführt hat? [...] 

Ist es nicht die Aufgabe von Ihnen, den Kardinälen, die bereit sein sollten, ihr Blut für den wahren Glauben zu geben, Ihre Stimme gegen Ketzereien zu erheben? Gibt es statt eines Verbots, die Äußerungen des Papstes zu kritisieren, nicht vielmehr ein Gebot der brüderlichen oder kindlichen Zurechtweisung?“  

Und er wünscht sich, dass das Beispiel einer correctio „andere Kardinäle dazu anregen kann, die opportune importune [zur rechten Zeit und zur Unzeit] Wahrheit zu behaupten, auch wenn dies die schreckliche Krise und das Schisma offenbaren mag, in deren Mitte wir uns befinden, und auch wenn einige pusillæ animæ [Kleinmütige] darin fälschlicherweise eine Gelegenheit für einen Skandal sehen mögen.“ 

Denn, so Professor Seifert: „Es ist keine kulturelle Frage, also die eines lateinamerikanischen Papstes. Es ist keine Frage des Geschmacks, des Stils oder des Temperaments. Nein, es geht um das Ja oder Nein zu Jesus Christus, der uns gesagt hat, dass wir allen Völkern und Nationen das Evangelium predigen sollen: Jeder, der an ihn glaubt, wird gerettet werden, aber jeder, der nicht an ihn glaubt, wird verdammt werden [vgl. Mk 16,16]. Kann der Papst diesen Missionsauftrag durch die Abu-Dhabi-Erklärung de facto aufheben?“ 

Es geht also darum, den Papst nachdrücklich zu bitten, „den sicheren Kompass seiner Lehre einzig und allein in der Wahrheit der Heiligen Schrift und den unveränderlichen Dogmen der Kirche zu finden und sich nicht zu erlauben, diese auch nur um ein Jota zu ändern, geschweige denn die Substanz des Glaubens zu verändern.“ 

Dafür ist eine übernatürliche Kraft für die Kardinäle notwendig, deren rote Robe symbolisch darauf hinweist, dass sie zum Martyrium bereit sein müssen: „Kämpft mutig und ohne Vorbehalte für die Wahrheit, für Christus und die Kirche und für die Seelen, einschließlich der von Papst Franziskus, und für die Einheit aller Christen, was nur in der Wahrheit möglich ist!“