Analysen und Kommentare anlässlich des Todes von Benedikt XVI. (2)

Quelle: FSSPX Aktuell

Der Tod des 95jährigen Benedikt XVI. am 31. Dezember 2022 und seine Beerdigung auf dem Petersplatz in Rom am 5. Januar haben eine Vielzahl von Analysen und Kommentaren in der Presse hervorgerufen. Um sich in dieser Masse an Dokumenten nicht zu verlieren, ist es sinnvoll, sie in vier Rubriken zusammenzufassen. Die ersten beiden Rubriken wurden bereits in Teil 1 besprochen.

3. Kann sich das Pontifikat von Franziskus nach dem Tod von Benedikt XVI. ändern? 

In La Nuova Bussola Quotidiana vom 7. Januar stellt Stefano Fontana die Frage nach dem Vermächtnis von Benedikt XVI. Seiner Meinung nach besteht dieses Erbe darin, „die gesamte Frage des Konzils und des Nachkonzils dort wieder aufzunehmen, wo der emeritierte Papst aufgehört hat, indem er das Werk der Bewahrung gegen Auflösungstendenzen fortsetzt und den Wiederaufbau fortführt. Für Franziskus hingegen ist die Debatte über das Konzil und das Nachkonzil beendet, aber die Kirche befindet sich immer noch in einer Position der Bewahrung und nicht „im Austritt“.“ 

Fontana behauptet: „Franziskus will post-postkonziliar sein. Es stimmt, dass er sich oft auf das Konzil bezieht, aber gerade um zu sagen, dass es nicht mehr darum geht, sich mit dem Konzil und der Epoche, die es eingeleitet hat, aufzuhalten. Die Debatte zwischen dem Konzil und der Zeit danach ist für ihn beendet. 

Der deutlichste Beweis für diese Position, von den unzähligen, die wir anführen könnten, ist das Motu proprio Traditionis custodes, das feststellte, dass die „liturgische Frage“ abgeschlossen sei und mit ihr die Frage einer ganzen Epoche. Aber genau das war die Hauptfrage, die Benedikt XVI. seiner Meinung nach offen lassen musste.“ 

Bedeutet dies, dass die von Benedikt XVI. gespielte Rolle des „Verzögerers“ oder „Entschleunigers“ mit ihm gestorben ist? Der italienische Journalist glaubt, dass „Benedikt und sein Vermächtnis die Kirche jetzt, nach seinem physischen Tod, stärker beeinflussen werden als zuvor, zu seinen Lebzeiten. Wir alle erinnern uns an seine letzten beiden öffentlichen Auftritte: einen zum Thema Missbrauch durch den Klerus und den anderen zum Thema Priesterzölibat mit Kardinal Sarah. 

Diese beiden Interventionen haben einige negative Prozesse „verlangsamt“ und Entscheidungen verhindert, die vielleicht schon getroffen worden waren, aber eingefroren waren. Mit seinem Tod wird dies nicht mehr möglich sein, aber diese Arbeit wird von nun an von denjenigen fortgesetzt, die sein Erbe angetreten haben.“ 

Diese Hypothese von Stefano Fontana wirft eine Frage auf. Ist die „Hermeneutik der Reform in der Kontinuität“, die von Benedikt XVI. im Jahr 2005 gefördert wurde, so zu sehen, dass sie konkret nur die „Verlangsamung“ eines unaufhaltsamen Falls bewirken kann? Wie ein Fallschirm, der den Fall verlangsamt, aber den Sturz auf den Boden nicht verhindert, sondern ihn nur weniger brutal macht? Dieses Erbe Benedikts XVI. entspricht kaum dem Programm des Pontifikats des heiligen Pius X.: „Alles wiederherstellen in Christus“ (Eph 1,10). 

Der argentinische Blogger The Wanderer vom 8. Januar meint im Anschluss an die deutsche Tagespost: „Mit dem Tod von Benedikt XVI. beginnt eine neue Phase des Pontifikats von Franziskus, ja sogar der Kirche selbst. Und der Grund dafür ist, dass Ratzinger wie eine Art Puffer gewirkt hat, der die Wut der Konservativen auf Bergoglios Exzesse dämpfte. Oder, wie Kardinal Müller sagte, die Konservativen konnten ins Kloster Mater Ecclesiae gehen und sich dort behandeln lassen. Gegenwärtig gibt es keinen Puffer, und es gibt auch kein Pflegeheim. Die Konfrontation ist unvermeidlich...“ 

Der argentinische Kommentator ist jedoch der Ansicht, dass der aktuelle Kontext die Machtverhältnisse verändert: „Der Tod von Benedikt XVI. kam spät; die Geschichte wäre ganz anders verlaufen, wenn er vor fünf oder sechs Jahren eingetreten wäre. Jetzt ist Bergoglio ein verbrauchter und geschwächter Pontifex, und alle, die ihn in mehr oder weniger engen Kreisen umgeben, erwarten seinen Tod. [...]. Wie Experten seit einigen Monaten sagen, riecht der Vatikan nach Konklave.“ 

Darüber hinaus „hat Franziskus extrem autoritärer Regierungsstil ihm überall Feinde gemacht, selbst unter denen, die seinen Progressivismus teilen. Denken wir zum Beispiel daran, wie der Kardinalvikar und der gesamte römische Klerus von der apostolischen Konstitution betroffen sein könnten, die er am vergangenen Freitag verkündet hat [In Ecclesiarum communione, 6. Januar 2023], wodurch er de facto in die Regierung der Diözese Rom eingreift und seinen Vikar beispielsweise verpflichtet, ihn bei der Ernennung aller Pfarrer oder der Weihe von Seminaristen zu konsultieren.“ 

Weiters hat Franziskus „auch nicht die Unterstützung der stärksten progressiven Kräfte: den deutschen Episkopat und mit ihm den Episkopat anderer Länder in seinem Orbit. Ebenso wenig verfügt er über die Unterstützung des Volkes. Das Volk, das „treue Volk“, steht Papst Franziskus nicht nahe. Man braucht sich nur die magere Beteiligung der Öffentlichkeit an jedem seiner öffentlichen Auftritte anzusehen. 

Bergoglio ist also schwach, weil er alt und krank ist, weil sein Pontifikat sich in viel Lärm um nichts erschöpft hat, weil sein Regierungsstil ihm zahllose Feinde eingebracht hat und weil es ihm an Unterstützung und Hingabe des Volkes mangelt.“ 

The Wanderer sieht jedoch keine Anzeichen für eine Reaktion der konservativen Prälaten, die er durcheinander aufzählt: „Die Kardinäle Burke, Sarah; Bischöfe wie Viganò oder Schneider sind vielleicht die bekanntesten. Aber ich würde auch die Kardinäle Müller, Pell [der gerade am 10. Januar seine Seele Gott übergeben hat. Anm. d. Red.], Erdö und Eijk sowie eine ganze Reihe amerikanischer Bischöfe in diese Gruppe einbeziehen.“ Es gibt aber keine konservative Reaktion, weil es unter diesen Prälaten keinen Führer gibt, der sie vereinen könnte. Auch wenn die progressive Presse derzeit einen Mann zum Abschuss freigegeben hat: Erzbischof Georg Gänswein, den ehemaligen Privatsekretär von Benedikt XVI., den die Vorstellung seines Buches Nient'altro che la Verità [„Nichts als die Wahrheit - Mein Leben mit Benedikt XVI.“, Herder Verlag], ins Rampenlicht rückt. [Siehe unten: Die Frage der traditionellen Messe]. 

Die argentinische Website ist der Ansicht, dass es eines besonders starken Ereignisses bedürfe, um eine Reaktion zu katalysieren. Sie sieht es in der möglichen Ernennung eines chemisch reinen Progressiven zum Leiter der Glaubenskongregation: „In vatikanischen Kreisen wird gemunkelt, dass die wahre Absicht von Franziskus darin besteht, den deutschen Bischof Heiner Wilmer zum Präfekten der Glaubenskongregation zu ernennen. 

Er ist eine Person, die von allen als ultra-progressiv beschrieben wird und sich an den extremsten Entscheidungen des deutschen Synodalwegs orientiert. Für ihn ist zum Beispiel die Heilige Messe kein wichtiger Bestandteil des christlichen Lebens und er schlägt eine komplette Revision der kirchlichen Lehre über Sexualität vor. Es heißt, dass er noch nicht ernannt wurde, weil Franziskus auf starken Widerstand von vielen Bischöfen und Kardinälen, wie Kardinal Müller, gestoßen ist. 

Sollte er jedoch auf diese Ernennung drängen, was angesichts der Umstände durchaus wahrscheinlich ist, besteht kein Zweifel daran, dass die Kirche in einen sehr tiefen Kampf und eine Spaltung eintreten würde, von denen niemand weiß, wie sie enden werden.“ 

4. Die Frage der traditionellen Messe als Stein des Anstoßes zwischen Benedikt und Franziskus? 

Eine Aussage von Bischof Georg Gänswein, dem Privatsekretär von Benedikt XVI., zeigt, dass die Beziehungen zwischen Papst Franziskus und seinem Vorgänger nicht immer so brüderlich waren, wie es die offiziellen Fotos zeigen wollten. Als der deutsche Prälat am 2. Januar auf Fragen des Vatikanisten Guido Horst von der Tagespost antwortete, sagte er über das Motu proprio Traditionis custodes, das Summorum pontificum praktisch außer Kraft setzte: „Es war sehr schwer. Ich glaube, dass die Lektüre des neuen Motu Proprio Papst Benedikt das Herz gebrochen hat, weil es seine Absicht gewesen war, all jenen, deren Zuhause die traditionelle Messe war, zu helfen, den inneren Frieden, den liturgischen Frieden zu finden, damit sie die Position von Erzbischof Lefebvre aufgeben. 

Wenn man außerdem bedenkt, wie viele Jahrhunderte lang die traditionelle Messe Quelle des spirituellen Lebens und Nahrung für so viele Menschen war, einschließlich vieler Heiliger, ist es unmöglich, sich vorzustellen, dass sie für niemanden mehr zugänglich ist. Und man darf nicht vergessen, dass viele junge Menschen, die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil geboren wurden und das ganze Drama um das Konzil, auch die neue Messe, nicht wirklich verstehen, auch in der traditionellen Messe eine spirituelle Heimat, einen spirituellen Schatz gefunden haben. Diesen Schatz den Gläubigen zu entreißen... Ich muss sagen, das ist etwas, das mir nicht gefällt.“ 

Man freut sich zu hören, dass Benedikt XVI. und sein Sekretär in einer gemeinsamen Verbundenheit mit dem spirituellen Schatz der tridentinischen Messe kommunizierten, aber man ist überrascht, aus dem Mund von Bischof Gänswein zu hören, dass diese Verbundenheit mit einer Loslösung einhergehen müsse, man solle nämlich „die Position von Erzbischof Lefebvre aufgeben.“ 

Da der Gründer der Priesterbruderschaft St. Pius X. nie behauptet hat, eine eigene Lehre oder eine originelle Position zu haben, fragt man sich, was die Aussage des deutschen Prälaten genau bedeutet.  

Eine Teilantwort liefert uns Luisella Scrosatti in La Nuova Bussola Quotidiana vom 5. Januar: „Kardinal Joseph Ratzinger hatte sich lange Zeit dafür eingesetzt, dass diejenigen, die dem alten Ritus zutiefst verbunden waren, ihren Platz in der Kirche haben konnten, ohne als ein Reservat von Nostalgikern betrachtet zu werden, sondern indem man ihre Liebe zu diesem ehrwürdigen Ritus der Kirche verstand. 

Bei den Bischofsweihen ohne päpstliches Mandat von Erzbischof Marcel Lefebvre und Erzbischof Antônio de Castro Mayer im Jahr 1988 schien es, dass die einzige Möglichkeit, weiterhin aus dieser unerschöpflichen und sicheren spirituellen Quelle zu trinken, darin bestand, Erzbischof Lefebvre bei der Schaffung einer kanonisch von der Kirche nicht anerkannten Einheit zu folgen und sich seiner Position der substantiellen Ablehnung der Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils, des nachkonziliaren Lehramts und der Liturgiereform anzuschließen.“ 

Die italienische Journalistin fährt fort: „Ratzinger war an vorderster Front dabei, eine kanonische Struktur zu schaffen, damit ganze Gemeinden und einzelne Priester und Gläubige nicht mehr vor dem unglaublichen Dilemma stehen: entweder der alte Ritus oder die kirchliche Gemeinschaft. 

So wurde die Päpstliche Kommission Ecclesia Dei und die verschiedenen priesterlichen Institute und monastischen und religiösen Gemeinschaften, die ihr angegliedert sind, geschaffen. Dies war ein wichtiger erster Schritt, aber es war klar, dass man dabei nicht von der Realität der „geschützten Zone“ und der Vorstellung wegkam, dass der alte Ritus zum Nutzen einiger Nostalgiker, vielleicht sogar ein wenig fanatisch, sei. Summorum Pontificum war die große Anerkennung, dass dieser Ritus voll und ganz zum liturgischen Ausdruck der Kirche im römischen Ritus gehört.“ 

Als Antwort auf Luisella Scrosattis „Dilemma“, „entweder den alten Ritus oder die kirchliche Gemeinschaft“, werden wir keine Ausdrücke wie „Nostalgiker-Reserve“ oder „vielleicht sogar ein bisschen fanatisch“ aufgreifen, sondern einfach einen Bischof zitieren, der nicht zur Priesterbruderschaft St. Pius X. gehört, aber heute ebenfalls das sieht, was Erzbischof Lefebvre ganz zu Beginn der Krise sah. 

In einem Videointerview, das von LifeSiteNews am 13. September 2022 verbreitet wurde, sagte Weihbischof Athanasius Schneider von Astana in Kasachstan über die von Erzbischof Lefebvre gegründete Bruderschaft: „Man muss realistisch sein. Die Situation der Priesterbruderschaft St. Pius X. ist mit der außerordentlichen Krise in der Kirche verbunden. 

Sie [ihre Priester] tun nichts anderes als das, was die Kirche bis zum Konzil immer getan hat: Es gibt nichts Neues, sie haben einfach das fortgesetzt, was die Heiligen selbst getan haben, und ich wiederhole: Ihre Situation ist aufgrund der großen Krise, die wir seit dem Konzil durchlaufen, kanonisch irregulär. Wir müssen sehr ehrlich sein und dies feststellen. 

Natürlich müssen wir dafür beten, dass sie die vollständige kanonische Struktur erhalten, und dabei helfen, aber wenn es einen Notfall in Glaubensfragen gibt, ist der kirchenrechtliche Aspekt zweitrangig. Vorrangig sind der Glaube, die Wahrheit und die Liturgie, und all das hat die Kirche immer bewahrt, wie es auch im vierten Jahrhundert während der Arianischen Krise der Fall war. 

Der Heilige Athanasius wurde exkommuniziert und er sagte: „Sie [die Arianer] haben alle Kirchen genommen, aber wir haben den Glauben. Sie haben die Gebäude, wir haben den Glauben“. Vielleicht haben sie [die Neoarier] die kanonische Macht und die Strukturen, aber so viele Bischöfe haben nicht den Glauben ... oder nicht den ganzen Glauben.“ 

Weihbischof Athanasius Schneider schloss: „Wir müssen also eine globale Vision haben und dafür beten, dass es [eines Tages] einen Papst gibt, der die Bruderschaft St. Pius X. und andere Gemeinschaften, die sich bemühen, den Glauben zu bewahren, anerkennt und ihnen alle Fakultäten gibt.“ 

Am 21. November 1974 gab Erzbischof Lefebvre die berühmt gewordene Erklärung ab: „Deshalb halten wir fest an allem fest, was im Glauben, in den Sitten, im Gottesdienst, im Unterricht des Katechismus, in der Ausbildung des Priesters, in der Institution der Kirche von der Kirche von jeher geglaubt und praktiziert wurde und in den Büchern kodifiziert ist, die vor dem modernistischen Einfluss des Konzils erschienen sind, bis das wahre Licht der Tradition die Finsternis vertreibt, die den Himmel über dem ewigen Rom verdunkelt.“ 

Und weiter: „Dabei sind wir mit der Gnade Gottes, der Hilfe der Jungfrau Maria, des heiligen Josef und des heiligen Pius X. davon überzeugt, dass wir der römisch-katholischen Kirche, allen Nachfolgern Petri treu bleiben und die fideles dispensatores mysteriorum Domini Nostri Jesu Christi in Spiritu Sancto sein werden. Amen.“ 

Fast 50 Jahre später zeigt sich die Richtigkeit der vom Gründer der Bruderschaft St. Pius X. dargelegten Grundsätze denjenigen Bischöfen, Priestern und Gläubigen, die ihn nicht gekannt haben, aber loyal anerkennen, dass diese traditionellen Grundsätze die gegenwärtige Situation erhellen und es ermöglichen, sich für das Heil der Seelen einzusetzen.