Die Gründe für die Entscheidung des US-amerikanischen Obersten Gerichtshofs

Quelle: FSSPX Aktuell

Innenraum des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten

Am 24. Juni 2022 gab der Oberste Gerichtshof der USA eine Stellungnahme im Fall Dobbs v. Jackson Women's Health Organization ab, in der er Roe vs. Wade und Planned Parenthood vs. Casey aufhob und die Frage der Abtreibung an die Bundesstaaten und ihre Vertreter zurückverwies. Im Folgenden sind einige der Gründe, die die Richter in der Mehrheitsmeinung für die Aufhebung von Roe anführten, zu lesen. Die Lektüre ist interessant, da einerseits der Fehler des ursprünglichen Urteils, andererseits aber auch die Grenzen des aktuellen Urteils erkennbar werden. 

1. Die Verfassung enthält keinen Verweis auf Abtreibung. 

Der Urteilsspruch betont, dass Abtreibung in der Verfassung nicht erwähnt wird und dieses Recht daher „implizit durch keine Verfassungsbestimmung geschützt ist, auch nicht durch diejenige, auf die sich die Verteidiger von Roe und Casey jetzt hauptsächlich stützen - den vierzehnten Verfassungszusatz.“ 

2. Abtreibung ist nicht „tief in der Geschichte und Tradition dieser Nation verwurzelt.“ 

Durch die Präzedenzfälle des Obersten Gerichtshofs wurde festgelegt, dass jedes Recht, das nicht ausdrücklich in der Verfassung erwähnt wird, „tief in der Geschichte und Tradition dieser Nation verwurzelt“ und „implizit im Konzept der geordneten Freiheit“ sein muss. Aber „das Recht auf Abtreibung fällt nicht in diese Kategorie“, so die Schlussfolgerung des Gerichts. 

3. Abtreibung unterscheidet sich „grundlegend“ von verwandten Entscheidungsgegenständen. 

Abtreibung unterscheidet sich „grundlegend“ von anderen Entscheidungen im Zusammenhang mit sexuellen Beziehungen, Verhütung und Ehe, da sie das zerstört, was andere Gerichtsentscheidungen als „fötales Leben“ bezeichnen und was das fragliche Gesetz aus Mississippi als „ungeborenes menschliches Wesen“ beschreibt. Doch „keine der von Roe und Casey zitierten Entscheidungen beinhaltete die moralische Frage, die durch die Abtreibung aufgeworfen wurde“. 

4. Roe hat den Stimmen der Frauen zum Thema Abtreibung kein Gehör verschafft. 

Indem das Gericht die gewählten Volksvertreter auf staatlicher und lokaler Ebene daran hinderte, Abtreibung gesetzlich zu gestalten, behauptet es, dass die Stimmen der Frauen – ob pro oder contra Abtreibung – unter Roe zum Schweigen gebracht wurden. „Unsere Entscheidung ... erlaubt es Frauen, zu versuchen, den Gesetzgebungsprozess zu beeinflussen, indem sie auf die öffentliche Meinung einwirken, Druck auf die Gesetzgeber ausüben, abstimmen und sich zur Wahl stellen“, heißt es im Dobbs-Urteil. 

5. Staaten haben „legitime Interessen“ an der Regulierung von Abtreibung. 

Ein Gesetz zur Regelung der Abtreibung hat, wie andere Gesetze zu Gesundheit und Wohlbefinden, Anspruch auf eine „starke Vermutung der Gültigkeit“, wenn es „eine rationale Grundlage gibt, auf der der Gesetzgeber annehmen konnte, dass es den legitimen Interessen des Staates dienen würde.“ 

Das Gericht zählt zur Erläuterung der legitimen Interessen des Staates auf: „Achtung und Bewahrung des vorgeburtlichen Lebens in allen Phasen; Schutz der Gesundheit der Mutter; Beseitigung schrecklicher oder barbarischer medizinischer Verfahren; Bewahrung der Integrität des Arztberufs; Linderung fötaler Schmerzen; und Verhinderung von Diskriminierung aufgrund von Rasse, Geschlecht oder Behinderung“. 

6. Roes Argumentation war „übermäßig schwach“. 

„Roe war von Anfang an offensichtlich fehlerhaft. Seine Argumentation war außergewöhnlich schwach, und die Entscheidung hatte schädliche Folgen. Weit davon entfernt, eine nationale Regelung der Abtreibungsfrage herbeizuführen, haben Roe und Casey die Debatte angeheizt und die Spaltung vertieft“, heißt es in dem Urteil. 

7. Der Konsens der Bundesstaaten über Abtreibung bestand bereits vor Roe. 

Das Recht auf Abtreibung war bis in die letzte Hälfte des 20. Jahrhunderts „im US-Recht völlig unbekannt“, betont das Urteil. „Als der vierzehnte Verfassungszusatz verabschiedet wurde, stellten nämlich drei Viertel der Staaten Abtreibung in allen Stadien der Schwangerschaft als Verbrechen dar.“

8. Der Oberste Gerichtshof kann die Abtreibung nicht gesetzlich regeln, aber die Gesetzgeber sollen dies tun.

„Es ist an der Zeit, die Verfassung zu berücksichtigen und die Abtreibungsfrage den gewählten Vertretern des Volkes zurückzugeben“, heißt es in der Entscheidung. „Die Unfähigkeit dieses Gerichts, die Debatte über diese Frage zu beenden, hätte nicht überraschen dürfen. Das Gericht kann nicht die dauerhafte Lösung einer nationalen Kontroverse herbeiführen, indem es eine Regelung diktiert und dem Volk sagt, es solle weitergehen. Welchen Einfluss das Gericht auch immer auf die Einstellung der Öffentlichkeit haben mag, er muss aus der Stärke unserer Meinungen resultieren und nicht aus dem Versuch, eine „rohe richterliche Gewalt“ auszuüben.“

Wie man sehen kann, liefert das Urteil einerseits klare Argumente: das Fehlen der Abtreibung in der Verfassung, keine Verwurzelung in der Geschichte des Landes sowie der Verhandlungsgegenstände, auf die sich der 14. Zusatzartikel bezieht; die moralische Komplexität dieser Frage; die Schwäche des aufgehobenen Urteils und schließlich die Legitimation der Bundesstaaten, die aufgeworfenen Fragen zu beurteilen.

Andererseits zeigen die Tatsache, dass das grundlegende Problem der Auslöschung eines unschuldigen menschlichen Lebens in keiner Weise angesprochen wird. Und die erklärte Neutralität des Gerichtshofes gegenüber zukünftigen Gesetzen jeglicher Art – für oder gegen Abtreibung – zeigen die Grenzen der getroffenen Entscheidung auf.

Auch wenn man die neue Situation begrüßen muss, da eine große Anzahl von Abtreibungen zumindest in naher Zukunft verhindert werden kann, muss man allerdings auch feststellen, dass die grundlegende Frage keineswegs „gelöst“ ist.